Ganoven
Glockenschlag vom 08.06.2016
Liebe Leserin, lieber Leser!
Die Geiselgangster von Berlin-Zehlendorf kamen hinter Schloss und Riegel, nachdem sie bei ihrem ›Tunnelcoup‹ 1995 zunächst eine Bank ausrauben, mit einer Millionenbeute fliehen und ein großes Polizeiaufgebot austricksen konnten.
Der Kaufhauserpresser ›Dagobert‹ wurde 1994 gefasst, nachdem er jahrelang seine Verfolger mit Raffinesse, kluger Taktik und ausgefallenen Ideen an der Nase herumgeführt hatte.
Die ›Gentlemen‹, die vor über 40 Jahren zur Kasse baten, bei London ohne Schusswaffen einen Postzug ausraubten und dabei umgerechnet über 50 Millionen Euroerbeuteten, wanderten für ihr spektakuläres Gaunerstück ins Gefängnis.
Keine Frage – sie alle verdienten eine gerechte Strafe. Schließlich haben sie Menschen bedroht und in Gefahr gebracht, erpresst und gestohlen, anderen Schaden zugefügt. Und dennoch können wir eine heimliche Bewunderung und Sympathie für sie nicht ganz unterdrücken. Ihr Einfallsreichtum, ihre gut ausgeklügelten Pläne, ihr professionelles Vorgehen machen Eindruck und üben eine gewisse Faszination aus. Etwas von dieser Faszination ist auch zu spüren in einer Ganovengeschichte, die Jesus seinen Freunden erzählt: Ein Verwalter veruntreut das Vermögen seines Herrn. Seine Unterschlagungen werden entdeckt, und er ahnt, dass er seine Stelle verlieren wird. Statt sich in sein Schicksal zu fügen, heckt er einen raffinierten Plan aus: Er lässt die Schuldner seines Herrn kommen und erlässt ihnen eigenmächtig einen Großteil ihrer Schulden. So zieht er sie auf seine Seite und kauft sich schnell noch einige ›Amigos‹, um nach seiner Entlassung nicht völlig im Regen zu stehen. (Lk 16,1–8) Mit dieser Gauner-Story verbindet Jesus einen Wunsch an seine Freunde: Wenn ihr doch auch so phantasievoll, so risikobereit wärt für meine gute Sache wie dieser Verwalter für seine eigenen Interessen! Wenn ihr euch doch auch so viel einfallen lassen würdet, um die Frohe Botschaft unter die Leute zu bringen, wie dieser Betrüger, um seine eigene Haut zu retten! Wenn ihr Kinder des Lichts euch doch auch so kreativ und entschlossen einsetzen würdet für das Reich Gottes wie dieses Schlitzohr für seine dunklen Machenschaften!
Ein Wunsch Jesu, der nichts von seiner Aktualität verloren hat: Wenn wir Christen doch zeigen könnten, dass Christsein sich nicht auf Bravsein und Liebsein reduzieren lässt! Wenn die Kirche doch wegkommen könnte von dem Image, nur aus Langweilern und Resignierten zu bestehen, die jeden Schwung verloren haben und nur noch über die Schlechtigkeit der Welt jammern! Wenn wir doch alle unsere Kräfte mobilisieren könnten, damit andere wieder neugierig werden auf die Ideen und Anliegen Jesu! Dann könnte Jesus auch heute noch überraschend in das Leben der Menschen eingreifen – durch unsere von den ›Gentlemen‹ abgeschaute kluge Entschlossenheit. Dann könnte er auch heute noch durch unsere ›dagobertsche‹ Geistesgegenwart manchen Suchenden Fluchtwege aus ihrem eintönigen und oberflächlichen Leben zeigen. Dann könnte er auch heute noch durch uns hin und wieder einen ›Tunnelcoup‹ landen und Unsichere durch die dunklen Gänge ihrer Angst und Enttäuschung ins Freie führen.
Claudia Weiß-Kuhl, Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Gustavsburg
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