Herbstgedanken
Liebe Leserin, lieber Leser,
vom „goldenen Oktober“ haben wir in den letzten beiden Wochen wenig gesehen. Mancher Nieselregentag lädt mehr zum Teetrinken auf dem Sofa ein, als zu einem Spaziergang in der Natur. Doch dann und wann kommt doch die Sonne hervor und zeigt alles im warmen Licht. Bei einem Waldspaziergang sehen wir die bunten Farben, die der „Maler Herbst“ an den Bäumen und auf den Wegen hinterlassen hat. Aber man kann auch noch anderes entdecken. Immer wieder aufgereiht am Rand der Waldwege findet man Baumstämme. An den Schnittstellen kann man das sehen, was dem menschlichen Auge sonst verborgen bleibt:Jahresringe, die vom Werden und Wachsen des Baumes erzählen.
Es sind keine mit Zirkel gezeichneten, gleichmäßig runden Jahresringe, die sich Jahr für Jahr aneinander gereiht haben. Jeder Ring hat seine eigene Form: oft holprig und wackelig, weit entfernt vom kreisförmig konzentrischen Ideal. Es sind ungleiche Abstände von Ring zu Ring.
Die größeren Abstände erzählen von warmen, feuchten Sommern, die engeren von den dürren Jahren. Da gab es Zeiten voll Licht und Tage mit aussichtslosem Nebel. Da war vielleicht nicht genug Platz zum Wachsen.
Was bisher hinter der Rinde verborgen war, das Wachsen, Reifen, die Verletzungen, liegt jetzt offen da und will zu uns sprechen.
Auch in unserem Leben gibt es diese unsichtbaren Jahresringe. Auch in unserem Leben reiht sich Jahr an Jahr.
Auch bei uns gibt es keine geometrisch genauen Kreise. Jedes Jahr entwickeln wir uns anders – manchmal zeichnet sich der neue Ring auch wackelig und holprig. Fragen könnten sich angesichts unserer Jahresringe einstellen.
Hatte ich genug Platz, um mich voll zu entfalten?
Wurde ich oder werde ich laufend zurechtgestutzt und beschnitten und in Formen gepresst?
Behinderten mich andere beim Wachsen?
Stand oder stehe ich mir selber im Wege?
Nehme ich mein Leben an, so wie es ist, auch meine Vergangenheit?
Oder träume ich noch immer von einem ganz anderen Leben?
Nehme ich mich an – mit allen meinen Vor- und Nachteilen, meinen Fehlern und Schwächen, mit meinen krummen und geraden Jahresringen?
Weil Gott „Ja“ zu mir sagt, kann ich auch „Ja“ zu mir sagen. Die Jahresringe eines Baumes erzählen von fruchtbaren und trockenen Jahren. Davon, wie nahrhaft und gut sein Standort war. Von außen können wir beobachten, wie der Baum sich entfaltet. Sein eigentliches Wachstum passiert aber ganz in seinem Inneren.
Gab und gibt es auch für mich trockene Zeiten?
Was fehlt mir dann am meisten?
Und die Zeiten, in der es die Fülle gab – wo das Leben wunderbar erscheint, nehme ich die als Geschenk war oder sind sie selbstverständlich?
Sage ich DANKE dafür?
Und wie ist es in diesen Zeiten von Dürre oder Überfluss. bin ich da trotzdem gewachsen?
Und woraus, woher beziehe ich meine innere Nahrung?
Was ist für mich wie ein warmer Regen, der mich aufleben lässt?
Gebe ich auch anderen Platz? Wie gehe ich denn mit den Menschen neben mir – in meiner Familie, im Freundeskreis, an der Arbeit und in der Schule, in der Nachbarschaft um?
Bin ich auch für andere Nahrung, oder nehme ich nur?
Bin ich selber die Mitte – kreise ich um mich selber? – Um meine Wünsche, meine Vorstellungen, meine Defizite? Oder suche und spüre ich die Mitte in mir – versuche ich Platz zu machen für Gott, der die Quelle meines Lebens ist? Lasse ich zu, dass ER meine Mitte ist, die Achse, die mich antreibt?
Glaube ich, dass Gott es ist, der mit mir geht, mich wachsen lässt? Der mir Licht, Luft und die Richtung gibt? Der mich zum Leben und Wachsen beruft?
Solche Gedanken können schon mal bei einem Waldspaziergang angesichts des Werdens und Vergehens der Natur kommen.
Aufmunternd kann ein Wort aus den Psalmen sein:
Der Mensch, der sich auf Gott verlässt,
ist wie ein Baum,
der am Wasser gepflanzt ist,
der grünt und blüht
und Frucht bringt zu seiner Zeit. ( nach Psalm 1)
Claudia Weiß-Kuhl,
Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Gustavsburg
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