Mit wachem Verstand ringen um Regeln
Liebe Leserinnen und Leser,
Seit einigen Wochen ist ein junge Frau weltbekannt geworden: Carola Rackete rettete als Kapitänin der „Seawatch“ mit ihrem Team Geflüchtete aus dem Mittelmehr. Als sie tagelang in Italien nicht anlegen durfte, tat sie es trotzdem, als sie der Überzeugung war, die Zustände an Bord nicht mehr verantworten zu können. Dennoch: Sie übertrat damit die Regeln, welcher der italienische Innenminister Salvini gegen die Seenot-Rettung aufgestellt hatte.
Carola Rackete bekam für ihr Handeln Zustimmung und Ablehnung.
- Wann darf ich Regeln brechen, wann nicht?
Immer wieder gibt es Regeln, die sind unerträglich. Allerdings: welche das sind, hängt ganz und gar vom eigenen Standpunkt ab. Stehe ich auf dem Standpunkt, dass Menschen, welche in Not sind, geholfen werden muss ohne wenn und aber, dann sehe ich mich auf der Seite Carola Racketes. Stehe ich auf dem Standpunkt, es gibt dem übergeordnete Interessen, wie das souveräne Bestimmungsrecht eines Staates, wer seinen Boden betreten darf, dann sehe ich mich auf Seiten Salvinis. Stehe ich gar auf dem Standpunkt, dass mein Land und die Bevölkerung sich mit allen Mitteln schützen müssen vor bestimmten Menschen (ganz gleich ob es deren Hautfarbe, Religion oder Kultur ist, die mich stört), sehe ich mich auf ganzer Linie mit Salvini einig.
Carola Rackete sah sich in einer Zwangslage, aus der heraus sie sich für Regeln und Werte entschied, die ihr persönlich wichtiger waren, als jene, die ihr unmittelbar vorgegeben wurden. Ich persönlich kann ihre Situation nachvollziehen und hätte wohl genauso gehandelt – wenn ich den Mut dazu gehabt hätte. – Dennoch: es bleibt eine Regelübertretung. Und Regelübertretungen sind sehr ernst zu nehmen. Immer!
Wie ernst dies zu nehmen ist, wird dann deutlich, wenn die Regelübertretung von jener Seite vollzogen wird, die mir nicht sympathisch ist. Vom Standpunkt der Reichsbürger hat unser Staat keine Rechtsgrundlage und so gelten für sie all seine Gesetze nicht. Vom Standpunkt der Anti-Europäer aus ist die Zusammenarbeit der europäischen Staaten viel zu weitreichend, weil dies die Souveränität des eigenen Staates mindert. Für diese Leute sind EU-Regeln unerträglich. Vom Standpunkt der Rassisten oder Homophoben ist die Anwesenheit jener Gruppe von Menschen, die sie ablehnen, unerträglich. Aus ihrer Sicht haben sie das Recht, die gesetzten Regeln zu übertreten und diese Menschen anzugreifen. Spätestens hier wird deutlich: Regelübertretungen müssen Grenzen gesetzt werden.
Es gibt, neben jenen, die einen anderen politischen Standpunkt haben, noch eine weitere Gruppe von Menschen, welche das Handeln Carola Racketes ablehnen. Es sind jene, welche dem Befolgen von Gesetzen, Regeln und Prinzipien die größte Wichtigkeit geben. Ihr sehr ernst zu nehmendes Argument ist: Regeln und Gesetze bilden das Rückgrat jeder Gesellschaft. Beginne ich, Regeln zu brechen, weil sie mir nicht gefallen – egal auf welcher politischen Seite ich stehe – beginne ich mit der Zerstörung der Gesellschaft.
Andererseits: jede Gesellschaft muss ein Rütteln an ihren Regeln aushalten. Regeln und Gesetze, so sagt bereits Jesus von Nazareth, sind für den Menschen da und nicht umgekehrt (sinngemäß Markus 2,27). Er sagt: Regeln und Gesetze sind immer Menschenwerk. Das bedeutet: sie sind immer begrenzt und erfassen nur einen Teil des Lebens. Wenn es gut geht, dienen sie möglichst vielen Menschen in lebensförderlicher Weise eine Zeit. Sie müssen jedoch immer wieder auf den Prüfstand ihrer Tauglichkeit für das gelingende Leben und Zusammenleben. Immer wieder gilt, auszuloten, wen die geltenden Gesetze benachteiligen. Gesetze, welche die Sklaverei als selbstverständlich voraussetzten, Gesetze, welche die Frauen niederhielten oder Gewalt in den Familien untermauerten bestanden auch bei uns. Der Klärungsprozess zum Abbau dieser, in heutiger Zeit als Unrecht erkannten Gesetze, begann immer mit einem Rütteln daran bis hin zum mutigen Bruch dieser Gesetze. Gesetze sind für mich immer dann fragwürdig, wenn sie dem Leben nicht förderlich sind, wenn sie einem gelingenden Leben und Zusammenleben entgegen stehen.
Eine der großen Herausforderungen unserer Zeit ist die soziale Ungerechtigkeit, die von den bestehenden Gesetzen so „hingeregelt“ wird. Hier zeigt sich, wie weit wir noch davon entfernt sind, die Interessen und Bedürfnisse wirklich aller Menschen zu berücksichtigen und alle als gleichwertig und gleichberechtigt anzuerkennen.
Eine weitere große Schwierigkeit, die sich heutzutage in unserer Gesellschaft ergibt, liegt nicht allein im vielfältigen Rütteln an Gesetzen, sondern auch am Rütteln von erstarkenden extremen Standpunkten aus. Standpunkte, die nicht nur einzelne Gesetze, sondern große Teile oder gar das Ganze unserer Gesellschaft in Frage stellen. Zugespitzt werden diese Schwierigkeiten dadurch, dass gerade Menschen, die eine extreme Position einnehmen, Minderheiten eben nicht einbeziehen, sondern ausgrenzen. Und sie vertreten ihren Standpunkt meist mit einem Absolutheitsanspruch, der nichts anderes gelten lässt.
Genau dies lässt jedoch die notwendige Gesprächskultur oder auch „Streitkultur“ auf ein bedenkliches Niveau fallen. Ich erlebe es bisweilen als unerträglich, wie in sogenannten „Talk-Shows“ die Teilnehmenden sich ins Wort fallen und nicht mehr in der Lage sind, einander zuzuhören. Oder wie unter die Gürtellinie geschossen wird und diejenigen, die das tun, auch noch stolz darauf sind.
Das wirkliche Gespräch, das wirkliche Aufeinander-Hören und das gemeinsame Ringen um Lösungen, welche die Bedürfnisse aller Seiten berücksichtigt, ist die einzige Chance, überkommene Regeln notwendigerweise zu identifizieren und einen gemeinsamen, guten Weg zu finden.
Einen wachen Verstand und viele einfühlsame Gespräche im Ringen um Regeln, die das Leben fördern wünscht sich und Ihnen -
Ihr Wilfried Ritz, Pfarrer in Ginsheim
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